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Zur neoliberalen Legende vom „totalen Wohlfahrtsstaat“

 
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Störtebeker



Anmeldungsdatum: 14.05.2006
Beiträge: 1256

BeitragVerfasst am: So Okt 22, 2006 10:00 pm    Titel: Zur neoliberalen Legende vom „totalen Wohlfahrtsstaat“ Antworten mit Zitat

Jetzt wissen wir es endlich: In Deutschland gibt es eine „neue gesellschaftliche Unterschicht“. So der Titel einer Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Diese Unterschicht zählt in der BRD acht Prozent, in Mitteldeutschland gehört jeder fünfte Bürger dazu. Jetzt spricht man vom „Prekariat“, denn während das Proletariat noch Arbeit hat, so ist für die Dauerarbeitslosen die Lage äußerst prekär. Immer mehr Hartz IV-Empfänger, heißt es in der Studie, seien davon überzeugt, daß sie aus dem tiefen Loch, in das sie gefallen sind, nicht mehr herauskommen. Anstatt weiterhin zu strampeln, um nach oben zu kommen, richtet man es sich in der Unterschicht eben so gut ein wie es nur irgendwie geht.

Schon vor ein paar Monaten kam der Göttinger Politologe Franz Walter genau zu dem gleichen Ergebnis: Immer mehr Unterschichtler zögen sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurück, sie blieben auch zunehmend von Wahlen fern. Walter zog daraus zutreffend den Schluß, daß die Unterschicht in Individualismus und Vereinzelung nur die Oberschicht nachahme – dies freilich auf einem sozial tieferen Niveau: Fernsehnachmittag statt Golfplatz. Denn wenn Vater Staat einen fallen läßt, warum soll man sich für diesen dann auch noch einsetzen?

Nun überbieten sich die Bundestagsparteien darin, sich gegenseitig zu beteuern, daß das gemeinsame Projekt Hartz IV nicht die Ursache für das Abrutschen eines Teils des Volkes in eine relative Armut sei. Man fragt sich dann aber: was sonst? Da man offenbar gar nicht nach der wirklichen Ursache, der Umverteilung von unten nach oben sucht, muß man logischerweise diejenigen, die ganz unten gelandet sind, für ihre Lage alleine verantwortlich machen. Die Tatsache, daß es auch unter Arbeitslosen hier und da Mißbrauch gibt, also Leute, die gar nicht arbeiten wollen, nutzt man geschickt, um die gesamte neue Unterschicht als arbeitsscheues Gesindel abzuqualifizieren. Auch wenn man es nicht so direkt sagt, es liegt doch irgendwie in der Luft.

Gerade viele vermeintliche Konservative entpuppen sich nun im Zuge der Unterschicht-Debatte als knallharte Neoliberale. Seit sich in der BRD seit den achtziger Jahren der angelsächsische Neoliberalismus durchgesetzt hat, erwecken deutsche Konservative den Eindruck, es handele sich bei ihnen – im Stile von Reagan und Thatcher – um „Neocons“. Das heißt, man ist wirtschaftsliberal in der Innenpolitik und US-imperialistisch in der Außenpolitik. Dem Chefredakteur der „Jungen Freiheit“ Dieter Stein fällt nichts anderes ein, als der Liquidierung des Sozialstaats das Wort zu reden: „Die erschütternden Meldungen über Kindesmißhandlungen und die ‚Unterschicht-Debatte‘ lösen bei Politikern aller Parteien nun die üblichen Reflexe aus, man suggeriert populistisch, mit staatlicher Allmacht ließe sich alles lösen. Noch mehr Kontrollen, Stichproben, Hilfen sollen es richten. Warum wird nicht endlich das ganze staatliche Sozialsystem in Frage gestellt – im Interesse der Betroffenen?“

Das ist typisch Neoliberalismus: Da wird der übermächtige Staat herbeihalluziniert, obwohl in Wirklichkeit in der BRD überall dereguliert wird. Dann soll die Liquidierung des Sozialstaats auch noch im Sinne der Betroffenen sein. Zynischer geht es nimmer! Vielleicht freuen sich die Leute, wenn sie demnächst unter der Brücke landen? Daß der Sozialstaat in den letzten Jahren, gerade im Zuge von Hartz IV, Stück für Stück demontiert wurde, davon ist beim JF-Chefredakteur keine Rede. Dafür schwadroniert dann Michael Paulwitz in der gleichen JF-Ausgabe vom „totalen Wohlfahrtsstaat“. Das heißt also, die soziale Hängematte werde hierzulande immer weiter ausgedehnt, für das faule Gesockse gibt es immer mehr Geld. Das ist doch unerhört!

Natürlich gehört auch das zum Neoliberalismus: Den (tatsächlichen) Abbau des Sozialstaats in einen (fiktiv) aufgeblähten „Wohlfahrtsstaat“ umzudeuten. Und somit ruft die JF-Redaktion die bürgerlichen Spießer auf den Plan, die nach oben – gegenüber dem Kapital – buckeln und nach unten, wo sich keiner wehren kann, treten. Warum erklärt Dieter Stein nicht einfach seinen Lesern, was denn an die Stelle des zu liquidierenden Sozialstaats zu treten hat? Wollen wir zurück zur Agrargesellschaft früherer Jahrhunderte, als die Großfamilie das soziale Netz darstellte? Ist es überhaupt möglich, unter kapitalistischen Verhältnissen, wie wir sie heute bei uns vorfinden, in denen die Mutterrolle und die Hausarbeit ein gesellschaftlich unbezahltes Hobby wie andere auch sind, in solch konservativ romantische Verhältnisse zurückzukehren? Fest steht, das Großkapital ist an der Vereinzelung interessiert, an einzelnen Arbeitskraftanbietern und einzelnen Konsumenten und nicht an gemeinschaftlichen Strukturen.

Wer den modernen Sozialstaat in Frage stellt, soll bitteschön die praktikablen Alternativen hierzu auf den Tisch legen. Die wirkliche Alternative, das sollte sich Stein mal durch den Kopf gehen lassen, wäre das südamerikanische Modell: Das heißt, die Unterschicht rottet sich bei steigender Armut in Straßenbanden zusammen, die dann die Supermärkte und Kaufhäuser stürmen und plündern. Dann würde der deutsche Bürger wieder sehr schnell nach „Ordnung“ rufen!

Davon abgesehen, daß der Neoliberalismus stets das soziale Gewissen im Lande verdächtigt, es gehe darum, den „Umverteilungsstaat“ bzw. den „Versorgungsstaat“ weiter auszubauen. Nichts wäre falscher als das. Es geht nicht darum, die extremen Ungleichheiten in den Einkommen durch Steuersystem und Sozialversicherung – im Nachhinein! – umzuverteilen, sondern das Problem an der Wurzel zu packen. Nämlich dafür zu sorgen, daß es – im voraus! – keine extreme Ungleichheit in den Einkommen gibt. Hier geht es also um die gerechte Einkommensverteilung und nicht um die Umverteilung. Es geht letztendlich um die Aneignung der Kontrolle des Großkapitals durch die Volksgemeinschaft. Sonst werden auch weiterhin die Vorstände der Aktiengesellschaften durch Arbeitsplatzabbau in Deutschland die Kapitalrendite erhöhen, damit ihre eigenen Gehälter weiter steigen, die an die Kapitalrendite gekoppelt sind, und damit auch die vielen Aktionäre fürs Nichtstun ihren Reichtum weiter vermehren können.

Schließlich hat der Staat die Lohnpolitik zu gestalten. Das heißt, es sind Mindestlöhne festzusetzen, die zur Bestreitung des Lebensunterhalts und zur Ernährung einer Familie geeignet sind. Dann wären Höchstlöhne für das Führungspersonal in der Wirtschaft festzulegen, die das dreifache eines Facharbeiterlohnes nicht zu übersteigen haben. Wer deswegen die Kapitalflucht ins Ausland antritt, sollte vom deutschen Fiskus – nach US-Vorbild – auch dort zur Kasse gebeten werden. Dann wären asoziale Beschäftigungsverhältnisse (Minijobs bzw. 400-Euro-Jobs) aufzulösen und die vielen Zeitarbeitsfirmen abzuwickeln, deren durch Ausbeutung zustande gekommenes Vermögen in staatliches Eigentum zu überführen ist. Wenn wir dann noch schrittweise die Ausländerbeschäftigung reduzieren und Schutzzölle für Billiglohnkonkurrenz erheben würden, könnten wir die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland abbauen. Dann hätten die Leute auch wieder genug Einkommen, um eine Familie zu gründen.

Bis es soweit ist, wird JF-Autor Michael Paulwitz auch weiterhin das Erbe von Ludwig Erhard verfälschen. Dieser hatte nämlich in der Tat davor gewarnt, den Versorgungsstaat aufzublähen und somit die öffentlichen Haushalte zu belasten. Mit der kapitalistischen Ungleichheit, die Paulwitz vorschwebt, hatte Erhard allerdings nichts zu tun. Am Anfang seines Buches „Wohlstand für alle“ schrieb der Wirtschaftsminister im ersten Kabinett Adenauers unmißverständlich: „Bevor ich das Wirtschaftsressort in der ersten westdeutschen Bundesregierung übernahm, legte ich auf dem CDU-Parteitag der britischen Zone Ende August 1948 in Recklinghausen dar, daß ich es für abwegig halte und mich deshalb auch weigere, die hergebrachten Vorstellungen der früheren Einkommensgliederung neu aufleben zu lassen. So wollte ich jeden Zweifel beseitigt wissen, daß ich die Verwirklichung einer Wirtschaftsverfassung anstrebe, die immer weitere und breitere Schichten unseres Volkes zu Wohlstand zu führen vermag. Am Ausgangspunkt stand der Wunsch, über eine breit geschichtete Massenkaufkraft die alte konservative soziale Struktur endgültig zu überwinden. Diese überkommene Hierarchie war auf der einen Seite durch eine dünne Oberschicht, welche sich jeden Konsum leisten konnte, wie andererseits durch eine quantitativ sehr breite Unterschicht mit unzureichender Kaufkraft gekennzeichnet.“

Die Grundlagen des Sozialstaats, wie ihn Ludwig Erhard und andere auf dem Erbe der Sozialpolitik Otto von Bismarcks schufen, sind heute zerstört. Das Großkapital ist in seiner Profitgier dazu übergegangen, das öffentliche Eigentum an sich zu reißen, um daraus Geld und nochmals Geld zu machen. Der entkernte Staat kann sich gegen das Großkapital nicht mehr zu Wehr setzen. Bei der nächsten Revolution wird die Enteignung der Enteigner auf dem Programm stehen.

_________________
In einer Zeit des Universalbetruges ist die Wahrheit zu sagen eine revolutionäre Tat (George Orwell)
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Hexenjager



Anmeldungsdatum: 30.01.2006
Beiträge: 106

BeitragVerfasst am: Mo Okt 23, 2006 8:04 pm    Titel: Antworten mit Zitat

Zitat:
“Immer mehr Unterschichtler zögen sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurück, sie blieben auch zunehmend von Wahlen fern.”


Sie wären ja auch ganz schön blöd, wenn sie die wählen würden, von denen sie ausgeraubt werden! Und Alternativen wie die NPD können an ihre medial deformierten Politik-Rezeptoren oft nicht andocken.

Zitat:
“Ist es überhaupt möglich, unter kapitalistischen Verhältnissen, wie wir sie heute bei uns vorfinden, in denen die Mutterrolle und die Hausarbeit ein gesellschaftlich unbezahltes Hobby wie andere auch sind, in solch konservativ romantische Verhältnisse zurückzukehren?”


Unter den gegebenen kapitalistischen Verhältnissen natürlich nicht. Aber es ist jedenfalls erstrebenswert, dass eine neue politische Ordnung die Pervertierung und Auslöschung der Geschlechterrollen aufhebt. Erfüllung und Glück in der Familie kann der Einzelne dann finden, wenn der Staat die Familie nicht nur materiell fördert, sondern auch die Voraussetzungen für ein reformiertes Wertesystem schafft. In dieser Hinsicht gibt es viel zu tun: Der ganze stinkende propagandistische Vereinzelungs-Müll muss beiseite geschafft, die Kanäle der Gehirnwäschemedien müssen ausgeräuchert werden und einem neuen Volksbildungssystem Platz machen.

Die Debatte über das Anwachsen der sozialen Unterschicht darf eines nicht ausschließen: Jenen Teil der Unterschicht, der sich aus fremdvölkischem Abschaum zusammensetzt. Wenn dieser von der Verteilung sozialer Wohlfahrt ausgeschlossen wird, ist bereits eine Menge gewonnen.
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